Wie Amazon den Detailhandel erobert
Mit rasanter Geschwindigkeit baut Amazon seine Kerngeschäfte aus und neue Geschäftsfelder auf. Grundvoraussetzungen sind spezifische Kompetenzen und Infrastrukturen, die wir in diesem Artikel beleuchten.
Amazon dominiert den weltweiten Online-Handel, sorgt auch in der Schweizer Szene regelmässig für kontroverse Schlagzeilen und baut sein Leistungsspektrum laufend aus. Etwa mit Amazon Go, welches seinen Teil zur Umwälzung des US-amerikanischen Retails beiträgt.
Ein Blick in das Heimatland des Internetgiganten verdeutlicht, mit welchem Ausmass Amazon den stationären Handel umkrempelt: Zahlreiche grosse Kaufhäuser und Traditionsmarken haben mit dem Rückgang der Verkäufe zu kämpfen, darunter JC Penny, Sears oder Macy’s. Denn immer mehr Amerikaner tätigen ihre Einkäufe im Online-Handel. Dort, wo Amazon mit einem Marktanteil von rund 45 Prozent der Platzhirsch ist [1].
Für das Leiden, das die Übermacht des E-Commerce-Riesen bei den Einzelhändlern verursacht, haben Analysten mittlerweile einen Fachbegriff kreiert: „Der Amazon-Effekt“. Das milliardenschwere Unternehmen hat viel Geld in den Aufbau einer komplexen Liefer- und Lagerinfrastruktur investiert, über die heutzutage fast alle Produkte günstig und schnell per Mausklick geordert werden können. Amazon-Chef Jeff Bezos verspricht anhaltendes Turbo-Wachstum: Er will weiter kräftig investieren, um noch mehr Kunden von der Konkurrenz zu gewinnen [1].
Punkt 1: Systematischer Aufbau neuer Geschäftsfelder
Wie systematisch Amazon bei der aktiven Eroberung des Einzelhandels vorgeht, verät ein Blick in die Statistik zur Anzahl offener Stellen pro Geschäftsbereich (siehe Abbildung 1). Abgesehen vom Kerngeschäft (AWS und Fullfillment & Operations) ist Retail ein durchaus bedeutender Entwicklungsbereich, in dem das Unternehmen Stellen aufbaut.
Abbildung 1: Amazon’s offene Stellen je Geschäftsbereich
Amazon wird selbst innerhalb des Detailhandels einen Schritt weiter gehen und sich eines Sektors annehmen, in dem das Unternehmen noch nicht so richtig Fuss gefasst hat: den Lebensmittelbereich. Dies zeigt die letztjährige Übernahme der amerikanischen Supermarktkette Whole Foods. Damit will Amazon die benötigte operative Erfahrung im Lebensmittelbereich aufbauen: Whole Foods dient Amazon sozusagen als Laboratorium. Schlagartig besitzt Amazon nun ein ganzes Arsenal im Detailhandel, d.h. qualitativ hochstehende Eigenmarken, ein grosses Netzwerk an Läden, eine Lieferschiene inklusive Kühlkette sowie eine zahlungskräftige Kundenbasis. Diese Erfahrungen dürften sicherlich auch beim schnellen Aufbau solcher Konzepte in Europa helfen.
Punkt 2: Dran bleiben, auch wenn es mal nicht so klappt
Erste Versuche im Frischehandel startete Amazon bereits mit dem Online-Lebensmittel-Lieferdienst «Amazon Fresh». Insgesamt setzt der deutsche Lebensmittelhandel rund 200 Milliarden Euro um. Jedoch werden nur zwischen 1 und 2 Prozent davon im Internet realisiert. Was die Kunden vom Onlinedienst Amazon Fresh beziehen, hat das Marktforschungsunternehmen Mafowerk in Nürnberg kürzlich untersucht [2]. Dafür wurden rund 2000 Konsumenten befragt. Interessant ist, dass über die Hälfte der Befragten Süsswaren gekauft hat. Danach folgten Teigwaren, Kaffee, Getränke (siehe Abbildung 2: «Was kaufen Kunden bei Amazon Fresh»).
So richtig rund läuft es dennoch nicht. Einerseits liegt das wohl an den Konsumentenbedürfnissen. In einer aktuellen Umfrage des Consulting-Unternehmens Oliver Wyman wurden 1000 deutsche Konsumenten befragt: 44 Prozent davon erklärten, dass sie «mangelndes Vertrauen in die Produktqualität von einem Online-Kauf von Frischwaren» abgehalten hat [3]. Insbesondere bei Frischeprodukten wie Fleisch, Fisch oder grünem Salat meiden die Kunden den Online-Kanal. Warum das eigentlich ein Irrtum ist, erläutert Thomas Lang von Carpathia ausführlich und plausibel in seinem Blogbeitrag „Darum sind frische Lebensmittel online frischer“.
Sind also für die Supermärkte die Frischwaren das letzte Bollwerk gegen den E-Commerce-Ansturm? Tatsache ist, dass Frische-Labels in Deutschland und der Schweiz (zumindest im Moment noch) hoch in der Käufergunst stehen. Milch, Käse oder Jogurt verkaufen sich besser mit dem Frischesiegel vom regionalen Bauernhof. Das suggeriert Heimatverbundenheit und Qualität.
Weitere Hindernisse sind zu lange Lieferzeiten oder zu hohe Lieferkosten. Nachdem Amazon den Lieferdienst in Berlin, Potsdam, Hamburg und München als Pilot und in Zusammenarbeit mit DHL gestartet hat, steht zunächst die Verbesserung und der Ausbau an den vorhandenen Standorten im Mittelpunkt und nicht das Erschliessen weiterer Standorte.
Punkt 3: Die Logistik in den Griff bekommen
Besonders im Frischehandel erweist sich die Logistik als echte Knacknuss – sowohl für Amazon als auch für alle anderen. Es liegt in der Natur von Frischwaren, dass sie schnell an Qualität verlieren. Die Lieferung muss daher so rasch wie möglich erfolgen, idealerweise noch am Tag der Bestellung. Hier müssen also sehr enge Zeitfenster ausgenützt werden. Im schlimmsten Fall muss ein Lieferwagen mehrmals pro Tag den genau gleichen Weg fahren, was ökologisch unsinnig ist, hohe Kosten verursacht und – last but not least – den Stau auf den Strassen ankurbelt, den man doch vermeiden sollte. Es führt kein Weg an Lieferkosten oder Mindestbestellmengen vorbei. Doch gerade Letzteres wirkt demotivierend für die Kunden, denn es entspricht dem Wunsch vieler Verbraucher, kleine Mengen für den Sofortkonsum zu bestellen. Lesen Sie in diesem Beitrag mehr zum Thema Logistik Innovation.
Punkt 4: Kreativ sein und neue Ideen entwickeln
Doch Amazon ist sich geübt im Umgang mit grossen Herausforderungen. Neue Ideen müssen her. Das so genannte Um-die-Ecke-Denken ist gefragt. Der Break-Even lässt sich etwa erreichen, wenn der Kunde zusätzlich zu den Frischwaren auch ein oder zwei Non-Food-Artikel mit hohen Margen dazukauft. Amazon verfügt hier über einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil, den die meisten Einzelhändler in diesem Ausmass nicht besitzen.
Einen wahrhaften Innovationsschub sollen neue Services auslösen, welche sich die derzeit laufenden Entwicklungen in der künstlichen Intelligenz zunutze machen, um die Kunden bei der Planung der Mahlzeiten zu unterstützen. Dazu gehören vorgefertigte Einkaufszettel, aufgrund von Kundenprofilen erstellte Gerichte-Empfehlungen oder der Einsatz von Alexa, der sprachbasierten Mädchen-für-alles-Assistentin von Amazon. So würde es genügen, Alexa zuzurufen, was am Abend auf den Tisch soll. Intelligente Dienste wüssten genau, was noch vorrätig ist und würden Bestellungen automatisch auslösen, falls noch etwas für das Rezept fehlt. Je mehr Angaben Amazon über die Kundenvorlieben erhält, desto eher könnte Amazon als digitale Haushalts- und Küchenhilfe agieren. In vieler Hinsicht wird das Lebensmittelgeschäft zum Daten- und Informationsgeschäft. Wie künstliche Intelligenz auch im Supermarkt eingesetzt wird, erfahren Sie in unserem Insight.
Punkt 5: Verknüpfung zwischen Online und Offline
Gegenwärtig testet Amazon neue Verbindungen oder Kombinationen zwischen dem Online- und dem stationären Handel. Die eingangs beschriebene Übernahme von Whole Foods zeigt deutlich, dass auch Amazon selbst davon überzeugt ist, dass der Onlinehandel allein keine Zukunft haben wird. Auch wenn sich der Onlinekanal steigender Beliebtheit erfreut, kann er dennoch nicht das gleiche haptische Erlebnis bieten wie ein stationärer Laden. Dies bestätigt auch eine Erhebung des Marktforschungsinstituts Fuhrer & Hotz. Sie kommen zu dem Schluss, dass über alle Generationen betrachtet sich zwar knapp die Hälfte der Konsumenten online informiert, schlussendlich aber doch im Laden einkauft [4].
Und wie steht es mit dem Schweizer Markt? Der Retailexperte der Credit Suisse, Sascha Jucker, glaubt nicht, dass Amazon hierzulande eine Revolution startet. «Wir gehen nicht davon aus, dass Amazon die gleiche Dominanz erreichen wird wie etwa in Deutschland», betont er [4]. Die Struktur des Onlinehandels ist in der Schweiz viel heterogener: Unter den Top 10 der Online-Anbieter in Bezug auf Umsatz in der Schweiz befinden sich neben Digitec Galaxus (Platz 1) auch weitere bekannte Schweizer Brands wie Nespresso, LeShop und Coop@home (siehe Abbildung 3: die 15 umsatzstärksten Online-B2C-Anbieter in der Schweiz). Doch auch Schweizer Neulinge wie das Joint-Venture zwischen Swisscom und Coop namens Siroop mussten spüren, dass hohe Werbebudgets alleine nicht reichen, um sich in diesem umkämpften Markt einen Platz zu sichern.
Auch wenn Amazon weniger aggressiv in die Schweiz vordringt, dem Detailhandel bleibt es nicht erspart, sich in den nächsten Jahren neu zu positionieren. Während sich die Konsumentenstimmung nach dem Euro-Franken-Schock vor einigen Jahren inzwischen erholt hat, sind die Umsätze im Detailhandel immer noch stark unter Druck. Das wird sich auch im kommenden Jahr nicht wesentlich ändern, schreibt Credit Suisse [4]. Sich bei der Neupositionierung am Vorgehen Amazons zu orientieren, ist dabei keine schlechte Idee.